Männerarbeit
Leitfaden für die interkulturelle Väter- und Männergruppe
Männer mit Zuwanderungsgeschichte aus überwiegend muslimischen Ländern wie der Türkei, haben einen schlechten Ruf. Ihnen wird nachgesagt, dass sie den Übergang von familiären Machtstrukturen in Gleichberechtigung nicht schnell genug verinnerlichen können. Wir beobachten in unserer langjährigen Arbeit, dass es oftmals tatsächlich einer Zeit der Überleitung bedarf. Es muss Raum geschaffen werden, um durch Auseinandersetzung und Austausch zusammenzufinden und so die eigene Rolle in der heutigen Gesellschaft neu entdecken zu können.
Der Bereich Bildung und Erziehung wird nach wie vor hauptsächlich von Frauen abgedeckt. Wichtig ist aber, dass sich auch Männer und Väter einbringen und aktiv am Familienleben teilhaben. Nur so kann das klassische Rollenmodell aufgebrochen und nachhaltig neu geformt werden.
In Deutschland wurde 60 Jahre lang über diese Menschen gesprochen, statt mit ihnen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Handlungsbedarf bei Männern mit Zuwanderungsgeschichte nicht nur höher ist als bei Frauen, sie sind auch eine sehr schwer zugängliche Zielgruppe. Umso wichtiger ist es, bei bestehendem Interesse auch entsprechend agieren zu können. Dennoch fristen Männerprojekte, insbesondere im Kontext der Gewaltprävention, auch heute noch bundesweit ein Schattendasein. Die vielen Anfragen bezüglich Schulungen, Aufbau und Anleitung solcher Projekte, die im Aufbruch Neukölln eingehen, können kaum gedeckelt werden.
Auf dieser Seite erhalten Interessenten sowie Ratsuchende einen Überblick, wie im Aufbruch Neukölln Männerarbeit gestaltet und umgesetzt wird. Denn perspektivisch schließt sich mit der sozialen Männerarbeit auch der Schutzkreis für Frauen und Kindern.
Ehre
Frage:
Lehren Sie die Männer in ihrer Gruppe, dass das Werkzeug Begegnung auf gleicher Augenhöhe wichtig ist mit Blick auf ihre Frauen und wenn sie das tun, wie machen Sie das?
Antwort:
Wir fangen beim Punkt Null, der Erziehung, an. Wir stellen Fragen und hören, was geantwortet wird. Was haben unsere Vorfahren, Eltern und Verwandte uns beigebracht? Beispielsweise kann mit dem Begriff Ehre begonnen werden. Den Begriff Ehre nimmt jeder türkische Mann in Anspruch und versucht ihn fünf Mal am Tag anzuwenden. Aber es ist ein auswendig gelernter Begriff. Er ist innen hohl. Wenn man fragt, „Was ist Ehre für dich?“, bekommt man folgende Antwort. „Das, was meine Vorfahren erzählt haben: Du bist ein Mann. Du musst Deine Ehre schützen.“
Hier stellen wir Fragen. „Was ist mit den Frauen? Was ist mit den Kindern? Haben sie keinen Stolz, keine Würde?“ Wir versuchen anschließend gemeinsam den Begriff mit Inhalt zu füllen. Die Frage, „Was ist ein Mensch, der kein Mann ist?“, wird in den Raum gestellt. Hat er keinen Stolz und keine Würde? Wir versuchen dann gemeinsam nach Inhalten zu suchen. Beispielsweise, dass man hilfsbereit sein soll; dass man nicht wegschauen soll, wenn jemand in Not ist; dass man den Nachbarn behilflich sein soll; dass man über Menschen nicht lästern soll; dass man nicht stehlen soll, etc. Männer, die die Gruppe besuchen, würden heute den Begriff Ehre nicht mehr so beschreiben, wie vor zehn Jahren. Sie würden jetzt genannten Eigenschaften und Merkmale aufzählen, anstatt ihre Männlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Unser Ausgangspunkt ist die Erziehung und Bildung. Doch nicht nach dem Distanzprinzip: „Aus der Ferne habe ich dich gerne“. „Du gehörst dazu und wir lernen voneinander“, ist unsere Denk- und Arbeitsmaxime. Durch diese Gruppen kann jeder Volksuniversitätsabschlüsse für sich erwerben. Es ist ein wertvolles und geschätztes Geben und Nehmen. Genau das ist die Begegnung auf gleicher Augenhöhe. In der Kultur angelegte und angestrebte feststehende „Respektbekundungen“, wie beispielsweise das Händeküssen, bewirken Spaltungen.
Wir beginnen mit Fragen. Was ist Dein Ziel?. Wie möchtest du es erreichen? Bewirkst du damit nicht eher das Gegenteil? Mit welchen Mitteln und Maßnahmen könntest Du dein Ziel eher erreichen? Bei allen Mitteilungen sind Abwertungen dringend zu vermeiden, aber der Austausch darf kritisch und ernstnehmend sein. Die Lösung kommt aus der Gruppe.
Homophobie
Frage:
Wie werden Sie in der Zukunft internalisierte Homophobie angehen?
Antwort:
Wir haben mindestens zehnmal Vertreter von Lesben- und Schwulengemeinschaften zu uns eingeladen und haben mit ihnen gesprochen. Das Ergebnis des Austausches geben wir regelmäßig weiter. Ein weiteres Gespräch mit einer Ärztin mit türkischer Zuwanderungsgeschichte aus Österreich dauerte zweieinhalb Stunden zu diesem Thema an. Viel zu kurz. Im Übrigen haben wir auch sehr viele homosexuelle türkische Männer, die zwangsverheiratet worden sind. Weil sie sich nicht outen konnten, wurden sie von ihren Eltern in der Türkei verheiratet. Sie konnten diesem Druck im Nachgang nicht standhalten. Nachdem sie Kinder hatten, sind sie ausgebrochen. Sie haben ihre Frauen verlassen müssen. Das ist ein großes Problem. Auch darüber reden wir mit den Männern. Ein wichtiger Schwerpunkt sind die Themen Privatsphäre und sexuelle Orientierung eines Menschen. Sie tangieren uns nicht. Respekt und Akzeptanz sind die anzuwendenden Ersatzteile.
Liebe – was ist das?
Beispiel M:
M hat seine kleine Tochter mit einem Gürtel geschlagen und eine Bewährungsstrafe dafür bekommen. In der Gruppe weint er, obwohl man bekannterweise sagt, dass aus einem Stein mehr Tränen fließen als aus einem anatolischen Mann. Nach Teilnahme an der Väter- und Männergruppe macht M nun ehrenamtlich Werbung für ein gewaltfreies Familienleben, agiert also im Sinne einer gewaltfreien Erziehung. Er ist nun ein Spiegel für Andere geworden.
Beispiel D und T:
D´s Tochter ging für ein halbes Jahr nach Istanbul. Er brachte sie zum Flughafen und konnte Sie zum Abschied nicht umarmen. Er hatte die Kinder erst als sie 16 Jahre alt waren zu sich nach Deutschland geholt. Die Entfernung hat zu einer Entfremdung geführt. Es fehlte an den Grundlagen einer gegenseitigen Bindung zwischen Vater und Kindern. Die Kinder haben darunter gelitten, dass sie von Verwandten und nicht von ihren Eltern großgezogen worden sind. „Ich war für meine Kinder nicht der gute Vater. Dafür möchte ich nun für meine Enkel ein guter Opa sein.“ Grund für den Besuch der Männergruppe.
T: „Meine Enkelin dreht sich um und rennt weg, wenn sie mich sieht.“ Das Mädchen ist 13/14 Jahre alt. Was hat er gemacht, dass seine Enkelin sich so scheut? Er hat sie oft angeschrien, wenn Sie etwas „falsch“ gemacht hat, und nun tut es Ihm leid. Die Verhaltensweise muss geändert werden. Und das
wurde sie. Die Enkelin ist sehr überrascht über diese Änderung. Sie wundert sich, warum Opa auf einmal so friedvoll und zuvorkommend geworden ist und ändert ihrerseits Ihre ablehnende Haltung gegenüber D.
Scham und Beschämung
Frage:
Wie thematisiert man sensible und schambesetzte Fragen?
Antwort:
Das ist ein sehr steiniger, dorniger Weg. Der Beratende darf nicht erwarten, dass sich die Person sofort öffnet und wie ein Wasserfall redet. Die
erste Stufe heißt Vertrauen = Geduld + Ruhe + Gelassenheit. Diese drei Elemente müssen bei der Arbeit berücksichtigt werden. Beim Ansprechen sensibler Themen ist auf ausreichende Zeit zu achten. Beispielsweise haben wurde eine Selbsthilfegruppe (SHG) für Spielsüchtige eingerichtet, die vorher lange an den Männergruppen teilgenommen haben. Die Teilnehmer haben sich in den Gesprächsrunden erst jahrelang nicht geoutet, weil Scham- und Schuldgefühle eine große Rolle spielen. Erst nachdem die Teilnehmer volles Vertrauen hatten, öffneten sich mehrere von Ihnen wie die Tulpen in Istanbul.
In einer Selbsthilfegruppe sollte man gewisse Themen (Suchtproblematiken, Gewalt, Sexualität) immer wieder auf die Tagesordnung bringen, ohne abzuwerten. Und wenn die Betroffenen eines Problems irgendwann reden, darf man ihnen keine Vorwürfe machen, dass sie lange geschwiegen haben. Nachdem Vertrauen gesät und geerntet wurde, befreien sich die Menschen immer mehr vom Schamgefühl.
In einer Gruppe kann man hervorragend Gruppenprozesse als Motor dafür nutzen, um die Wahrscheinlichkeit des Outings als ersten Schritt zur Lösung zu steigern. Einer macht den Anfang, andere folgen und teilen sich mit. Es ist schwer zu glauben, aber auch türkische Männer können sich outen, dass Sie beispielsweise von Ihrer Frau betrogen wurden.
Unterschiede zwischen Töchtern und Söhnen
Frage:
Wie geht man als Berater, Lehrkraft oder Sozialarbeiter damit um, dass sich Jungen draußen aufhalten können, die Mädchen aber zu Hause bleiben müssen?
Antwort:
Wir appellieren an den Verstand der Elternschaft, keine Unterschiede in der Kindererziehung zu machen. Geschlechtsunterschiede sollen nicht zu Bevorzugung und Benachteiligung führen. Weder der Junge noch das Mädchen haben sich Ihr Geschlecht ausgesucht. Mädchen sind in Ihrer Freiheit eingeschränkt. Jungs büßen auch Teile Ihrer Freiheit ein. Wenn sie beispielsweise durch religiöse, kulturelle oder traditionelle Gründe verpflichtet werden, die Ehre der Schwester zu bewachen und zu verteidigen. Ein mahnender Zeigefinger setzt sich in ihrem Geist fest. Würde die Schwester nicht rausgehen, müsste er nicht auf sie aufpassen. Dann könnte er zu seinen Freunden. Das führt zu Wut. Die wiederum in Gewalt endet. Und während für die Eltern vermeintlich der Schutz der Tochter im Blickfeld steht, werden die Leben der Tochter und des Sohnes, ohne dass es eines weiteren Schädigers bedarf, tiefgreifend belastet.
Man erreicht Menschen erfolgreich, wenn man nichtzeitgemäße Umstände permanent herausstellt und thematisiert. Frauen durften vor ca. 50, 60 Jahren noch nicht arbeiten und waren finanziell von ihren Männern abhängig. Ihre Rollen waren für sie vordefiniert: kochen, waschen und alle Bedürfnisse des Mannes und der Kinder befriedigen. Im 21. Jahrhundert hat sich das geändert.
Wir möchten uns mit den neuen Rollen auseinandersetzen, das heißt auch die Türen der Küche für die Söhne öffnen, um die Nachteile für Sie zu reduzieren. Ein Mensch mit Kompetenzen in vielen unterschiedlichen Bereichen lässt sich nicht so schnell kränken. Wie fühlt sich ein Mädchen, dessen Bruder Beschneidungsfest feiert und empfindet der Bruder die Beschneidung als Feier mit dem Wissen, was mit ihm passieren wird? Ein schönes Thema für Gespräche zwischen Geschwistern aller Nationen.
Zusammenarbeit mit anderen Vätergruppen
Frage:
Gibt es Kontakte zu anderen Vätergruppen? Lernt man voneinander, wie man die Väter stärker in die
Erziehung einbindet? Es ist ein wichtiges Thema, das alle Völker vereint.
Antwort:
Es gibt Kontakte zum Väterzentrum und zur Vätergruppe der Heinrich-Böll-Stiftung. Im Vergleich zu Projekten für Mädchen und Frauen sind Männerprojekte rar gesät. Es sind zu wenige Angebote für Männer und Väter vorhanden. Wir sind glücklich, dass Frauen und Mädchen zeitiger das Zepter in die Hand genommen haben und Projekte gestemmt haben. Wir sind noch am Anfang des Prozesses und müssen diesen beschleunigen.
Allein in Berlin gibt es schon sieben Gruppen. Es besteht die Absicht in den nächsten 2 Jahren in jedem Bezirk eine Vätergruppe zu gründen. Und zwar keine türkische, sondern eine gemischte Gruppe, in der eine gemeinsame Sprache deutsch und künftig auch englisch gesprochen wird.