Konzept

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Multikulturelle Elternarbeit in Berlin Neukölln

Autor: Kazim Erdogan, Aufbruch Neukölln e.V.

Der Verein Aufbruch Neukölln e.V. arbeitet präventiv und aktiv vor allem mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vor allem mit, aber auch ohne Einwanderungshintergrund in Berlin-Neukölln. (Diese Formulierung ist dem Bevölkerungsanteil der Bewohner in Neukölln geschuldet). Der Verein verfolgt das Ziel, insbesondere die Eltern mit aber auch ohne Zuwanderungsgeschichte besser in die Schul- und Erziehungsverantwortung einzubinden, Jugendliche in ihrer Sozialkompetenz zu stärken und in ein gewaltfreies, demokratisches, eigenverantwortliches und tolerantes Leben zu begleiten.

Zunehmend konnte ich während meiner beruflichen Tätigkeit in Neukölln feststellen, dass es zahlreiche gelungene Projekte im sozialen Bereich für jede erdenkbare Personen- und Problemgruppe gibt, was mich freut und der Stadt verbunden macht, die Gruppe der Männer und Väter in Problemsituationen jedoch vernachlässigt wird. Die Einbeziehung der Väter und Männer in die Bereiche Bildung und Erziehung ist für das friedliche Zusammenleben und für die Integration in unserer Stadt jedoch von größter Bedeutung, da sie traditionell über kulturell bedingte Sozialstrukturen Vorbild und Familienoberhaupt für ihre Kinder sind und die Entwicklung der Kinder wesentlich beeinflussen.

Die Scheidungsraten in den Familien mit Zuwanderungsgeschichte sind sehr hoch und steigen weiter. Viele der Väter kommen mit der Trennungs- und Scheidungssituation und der Arbeitslosigkeit bzw. die Beschäftigung im Niedriglohnbereich nicht zu Recht. Sie haben keine Möglichkeiten über ihre Probleme zu sprechen und diese zu verarbeiten. Für die Lösung ihrer Probleme kommen entweder Männercafes oder Moscheen in Frage, die für den Integrationsprozess und das interkulturelle Zusammenleben in Berlin nicht immer förderlich sind. Viele Väter und Männer sind nicht mehr in der Lage und bereit, für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder und eine funktionierende Familienstruktur Verantwortung zu übernehmen. Die Kinder wachsen dann zunehmend in einer vaterlosen, respektlosen, perspektivlosen und aus ihrer Sicht feindlichen Gesellschaft auf. Dies führt zu erheblichen Schwierigkeiten in den Schulen und Kitas in Neukölln und verhindert einen erfolgreichen Start in das berufliche, familiäre und gesellschaftliche Zusammenleben der werdenden Erwachsenen.

Damit die Väter und Männer aus der Isolation und den Cafes herauskommen und sich mehr als bisher für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder einsetzen, müssen die bestehenden Angebote für die Väter zielgerichtet weiterentwickelt werden. Ohne Einbeziehung der Väter und Männer wird die Integration der hier lebenden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nicht gelingen. Diesen Umstand haben wir in der praktischen Arbeit erkannt und umgesetzt. Die Chancen für ein friedliches Füreinander und Miteinander unter Einbeziehung der Väter und Männer steigen deutlich, da gerade die Väter ein wertvolles und notwendiges Potential für die Entwicklung der Familienstrukturen und der Kinder sind. Insbesondere in der Gruppe der Familien mit Zuwanderungshistorie kommt dem Mann traditionell die Versorgerrolle zu. Er ist verantwortlich für die ausreichende Versorgung der Familie und nimmt die entscheidende Vorbildfigur ein. Wenn dieses Vorbild durch finanzielle Not, das Gefühl den „nicht gebraucht Werdens“, durch Zweifel an der eigenen beruflichen und sozialen Kompetenz ausfällt, kommt es zum Bruch in der Sozialstruktur der Familie. Oftmals sind Gewaltsituationen, Trennung und Scheidung die Folge. Für die Kinder in diesen Familien bedeutet dies ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen und verhindert eine erfolgreiche Schul- und Berufsausbildung in vielen Einzelfällen.

Daher begannen meine Mitarbeiter und ich bereits im Jahr 2007, uns Gedanken zu machen, wie durch Projektarbeit die Situation insbesondere türkischer Vätern und
Männern in Neukölln verbessert werden kann.

So entstand das Projekt

„Väter und Männer im Gespräch“

Obwohl die Kontaktaufnahme zu den Vätern und Männern in ihrer Landessprache erfolgte, waren große Anstrengungen und Überzeugungsarbeit nötig, sie zu regelmäßigen Treffen zu bewegen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Die Gruppe begann mit nur zwei Teilnehmern. Die Anzahl stieg jedoch von Woche zu Woche rasch an, so dass schon bald bis zu 50 Männer unser Angebot wahrnahmen. Für das Projekt wurde und wird keine Werbung gemacht. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Teilnehmer sind zwischen 24 und 65 Jahre alt. Damit die Sichtweisen der Frauen und Mütter ausreichend bei den Gesprächen Berücksichtigung finden, wird die Gruppe von einem Mann und einer Frau ehrenamtlich geleitet. Die Teilnehmer treffen sich regelmäßig einmal in der Woche für zwei bis 3 Stunden.

Wir konnten feststellen, dass die Männer und Väter sehr offen sind für Hilfen und Unterstützung und schnell aus ihrer eigenen Initiative heraus das Projekt weiter gestalten. Auch waren wir überrascht von der großen Bereitschaft in der Gruppe, sich für zahlreiche ehrenamtliche Aktionen in Kitas, Schulen und im Sozialraum Neukölln einsetzen. Diese Erfahrung hat aus unserer Sicht eine hohe Bedeutung für die öffentliche Debatte über Motivationsfragen von Männern und Vätern mit Zuwanderungsgeschichte.

Im Besonderen sollen selbst entwickelte Strategien und Aktivitäten sowie Fachinformationen in der Gruppenarbeit dazu beitragen, einen Ausweg aus
Arbeitslosigkeit, aus Isolation, aus Chancenlosigkeit und aus eng eingegrenzten Lebensbedingungen zu schaffen, ihre Selbstsicherheit und Kommunikationsfähigkeit
stärken, Kontakte untereinander zu knüpfen und damit ihre eigene Identität zu festigen. Männer sollen wieder selbstbewusst den Alltag für sich und ihre Familie meistern können und Eigeninitiative ergreifen bei der Suche nach einer Beschäftigung.

Die Teilnehmer entwickeln die Themen in den wöchentlichen Treffen aus ihren persönlichen und zeitlich nahe liegenden unmittelbaren Erfahrungen heraus selbst. Die
Aufgabe der Gruppenleiter ist es, die Unterschiede von Sichtweisen bei den Teilnehmern sichtbar zu machen und für Veränderungsprozesse auf der individuellen und auf der Gruppenebene zu nutzen. Übergeordnetes Ziel ist neben der Erzeugung positiver Effekte bei den Teilnehmern die Integrationsmotivation und den Wunsch nach Austausch mit der deutschen und immigrierten Gesellschaft in Berlin zu fördern. Aus individuellen Themen und Wünschen werden oft Gespräche über esamtgesellschaftliche Fragen. So wurden von uns bisher die nachfolgenden Themen (beispielhafte Auflistung) behandelt:

  • Fragen zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (Bundesländer, Bundesrat, Parlament etc.) Fragen bei Trennung/Scheidung, Sorgerecht, Schulsystem;

  • Import –und arrangierte Eheschließungen, Zwangsheirat, physische und psychische Gewalt, Ehre, Ehrenmorde, Jugendgewalt und ihre Entstehungsgründe,

  • Gleichberechtigung von Mann und Frau, frühkindliche Erziehung, Sprachförderung und Kita-Besuch, gewaltfreie Erziehung, Sexualität, Jugend und Pubertät-

  • Gedanken und Ideen für ein besseres Zusammenleben zwischen Einwanderern und Deutschen, Toleranz und Akzeptanz, Folgen von Ausgrenzung und Abgrenzung;

  • Umgang mit modernen den Medien, Suchtkrankheiten, Spielsucht in Berlin, gesunde Ernährung, Sport, Bewegung, Fort –und Weiterbildungsmöglichkeiten,

  • Besprechung der Problemen der Gruppenteilnehmer, Hilfeangebote, Umgang mit

  • Behörden und dem Jugendamt, Gespräche mit Personen, die Vorbilder sind;

  • Einladung und Diskussion mit den Vertreter/innen unterschiedlicher Institutionen und Fachgebiete

  • Wie verbessere ich meine Chancen auf den Arbeitsmarkt?

  • Wo finde ich Unterstützung und Hilfe?

Im Zuge des Anwachsens der Gruppe entstand der Wunsch der Teilnehmer, sich ehrenamtlich zu engagieren. Gerade weil eine große Anzahl der zugewanderten Männer
und Väter Geringverdiener bzw. Empfänger von Transferleistungen sind, was ihr Selbstwertgefühl sehr verletzt, legte die Gruppe besonderen Wert auf die
Gesprächsthemen: Was können wir denn tun, um wieder gebraucht zu werden und unsere Selbstachtung zu erhalten. Die Ergebnisse dieser Überlegungen führten zu
gemeinnützige und ehrenamtlich erbrachte Leistungen Teilnehmern der Gruppe, die ich beispielhaft nennen möchte:

  • Betreuung der Woche der Sprache und des Lesens in Neukölln 2008 und 2010 (Schwerpunkt, Sprachförderung für Kinder und Jugendliche)

  • Fasten brechen gemeinsam mit Deutschen und Muslimen im Jahr 2008, 2009 und

  • 2010 (Tische decken, abdecken, Essen verteilen, Transportarbeiten, Einkaufen u.a.)

  • Ehrenamtliche Mitwirkung bei der Gründungsversammlung des Jugend-Neukölln e.V.

  • gemeinnützige Tätigkeiten bei der Durchführung der Veranstaltung Pro Reli – Pro Ethik am 23.04.2009 in der Otto Hahn Schule

  • Einsatz bei der Jahresputz-Aktion „Schule streichen“ der Otto Hahn Schule im Juli 2009,

  • Unterstützung des Mentorenprojektes an der Zuckmayer Oberschule am 21.09.2009, Ausbildung zu Mentoren


Regelmäßige Verteilung der Einladungen der Elternversammlungen des Vereins Aufbruch Neukölln e.V. an den Neuköllner Schulen und Kitas (im Schuljahr 2008
bis 2010 fanden 60 Elternabende an den Schulen und Kitas in Neukölln statt) Durch die große Bereitschaft der Teilnehmer, ehrenamtlich die Kita- und Schularbeit zu
unterstützen, entwickelte sich eine gezielte Schulung einzelner Teilnehmer hin zu Multiplikatoren, die nun seit ca. 6 Monaten aktiv in Kitas und Schulen ehrenamtlich
eingesetzt werden und dort, in bestimmten Situationen auch in der Sprache ihres Herkunftslandes, den Bildungsbetrieb unterstützen. Damit leisten sie einen ganz
erheblichen Beitrag zur Integration und zum Zusammenleben der Zugewanderten und Deutschen in Neukölln. Wesentlich für den Erfolg ist auch der Ort des Engagements, denn Kitas und Schulen sind die Orte, an denen Kinder und Jugendliche Erziehung und Bildung erfahren. Hier werden sowohl die Weichen für die Kinder und Jugendlichen, als auch das zukünftige Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Berlin gestellt. Es gibt wohl keinen Ort, an dem Integrationsarbeit effektiver für alle Beteiligten täglich praktiziert wird und Vorurteile in der so wichtigen Personengruppe der Kinder und Jugendlichen und auch bei den Erwachsenen abgebaut werden.

Wir haben in der Männer bzw. Vätergruppe festgestellt, dass ein großes Interesse und viel Bereitschaft bei den Teilnehmern an einem demokratischen und toleranten Miteinander mit den Bewohnern aller Nationalitäten und Kulturen in Neukölln besteht. Unsere Aufgabe ist es nun, diese Bereitschaft aufzugreifen, zu unterstützen und für eine tatsächliche Integration zu nutzen. Unsere Erfahrung besagt auch, dass die Menschen, die in unsere Gruppe kommen wollen und sie dann auch besuchen, persönlich und direkt angesprochen werden müssen. Bis es gelingt, eine Vertrauensbasis zu den Teilnehmern herzustellen und die Teilnehmer offen über ihre wirklichen Sorgen, Ängste und Nöte sprechen können, ist viel Geduld, Zeit und Mitgefühl erforderlich. Denn traditionell gilt bei vielen Familien nach wie vor der Grundsatz „schmutzige Wäsche wird zu Hause gewaschen“ und „Männer und Väter dürfen keine Schwäche zeigen“. Festgestellt haben wir auch in der Anfangsphase des Projektes intensive Befürchtungen „nicht verstanden und nicht angenommen zu werden“, die dazu führen, sich in den eigenen sozialen Kontext einzuschließen und ein „Inseldasein“ zu führen. Eine direkte Ansprache bzw. eine persönliche Einladung hilft dabei, emotionale Barrieren abzubauen. Unsere Gruppenarbeit nimmt das persönliche Erfahrungsfeld als Ausgangspunkt für die Gespräche. Soziale und gesellschaftspolitische Themen gewinnen dann im weiteren Gruppenverlauf immer mehr an Bedeutung.

Die Rückmeldungen anderer Teilnehmer machen dem Einzelnen Mut, eingeübte Vorgehensweisen kritisch zu betrachten und Veränderungen im familiären und
persönlichen Bereich zuzulassen. Alle vom Verein und den Teilnehmern durchgeführten ehrenamtlichen Aktivitäten und Projekte haben eine Brückenfunktion für das friedliche zusammenleben der zugewanderten und einheimischen Berliner.

Unser Ziel ist es, dass in internationalen Reiseratgebern Berlin nicht wegen seiner „No- Go-Areas“ Berühmtheit erlangt, sondern wegen seiner multikulturellen, toleranten Bewohner aller Herkunftsländer über die Grenzen Deutschlands bekannt und geschätzt wird. Um dieses Ziel zu erreichen, ist zunächst bei vielen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und vielen deutschstämmigen Bewohnern, die Vorurteile gegenüber der Zuwanderung haben, eine emotionale Stärkung und tatsächliche positive Erfahrungen mit Bewohnern anderer Nationalitäten nötig. Es besteht in Berlin ein natürliches Bedürfnis der Bewohner, sich gegenüber Menschen anderer Herkunft zu öffnen und die Berliner beginnen dies zu realisieren. Mit unserer Arbeit leisten wir einem bislang noch zahlenmäßig geringen aber innovativen und nachahmungswürdigen Beitrag hin zu einer toleranten fremdenfreundlichen Hauptstadt Berlin.

Das Projekt hat mittlerweile in Deutschland sowie im Ausland viele Nachahmer gefunden. In Bregenz/Österreich, Frankfurt am Main, Gifhorn/Niedersachsen und Berlin entstanden weitere Väter- und Männergruppen mit vergleichbaren Ansätzen. Gruppen dieser Art werden in NRW und Hamburg gegründet. Sie vernetzen sich derzeit untereinander, tauschen ihre Erfahrungen aus und bieten Interessierten aus anderen Städten in Deutschland sowie im Ausland fachliche Unterstützung.

Männer sind Menschen mit Schwächen, Fehlern, Schicksalsschlägen und großen Problemen verschiedenster Art und müssen, ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend, noch mehr aufgenommen werden in die Gruppe der Bewohner Berlins, die Hilfe, Verständnis, Unterstützung und ihr eigenes Selbstwertgefühl dringend benötigen.